Zeit des Überlebens by Erik Reger

Zeit des Überlebens by Erik Reger

Autor:Erik Reger
Die sprache: deu
Format: epub


5. Mai, Samstag.

Ununterbrochen sind jenseits der Bahn Panzer über die Heerstraße durch die Nacht gerollt. Von Berlin. Nach Süden. Zum Feldzug gegen Süden. Sudeten und Prag, denke ich.

In Mahlow jenseits der Bahn wimmelt es noch immer von Truppen, die zum Teil zum Bestand des sehr umfangreichen Feldlazaretts gehören. Ein Major, von dem die einen behaupten, er sei Arzt, die anderen, er existiere überhaupt nicht, soll das Amt eines Kriegskommandanten versehen.

Es hat sich nichts ereignet bis Nachmittags. Als ich mit der Frau Weyth Wasser hole, kommen wir an einem Garten vorbei, in dessen Laube Leute aus Berlin wohnen. Ein Russe, der ein Fahrrad hat, verhandelt mit drei Frauen am Zaun. Ich höre, daß er ein zweites Fahrrad haben will. Die Frauen sagen, die Räder seien längst alle gestohlen. Wir gehen weiter und sehen, uns umblickend, daß der Russe auf sein Rad steigt und hinter uns herfährt. Er ist angetrunken und schwankt ein wenig. Als wir durch unsere Gartentür wollen, ruft er: »Pan, komme mit.« Ehe ich das Tor schließen kann, hat er sein Fahrrad hineingezwängt. Ich ziehe den Schutzbrief aus der Tasche. Er versucht zu lesen, und ich bin nicht sicher, ob er mehr entziffern kann als das Wort »Kommandant«. Aber er lacht und sagt: »Gutt.« Er blutet am Finger, das Blatt ist schon besudelt, außerdem fängt es an zu tröpfeln und der Tintenstift, mit dem der Schutzbrief geschrieben ist, droht zu zerlaufen. Ich rette ihn in meine Tasche und warte darauf, daß der Bursche geht. Aber er lacht noch immer, schmeißt sein Rad wieder in die Blumenrabatte und behauptet, es sei defekt. Ich soll Werkzeug holen, um es zu reparieren. Nun hat er plötzlich ein Pistölchen in der Hand. Als ich ihm endlich klar machen kann, daß ich von Fahrradreparatur durchaus nichts verstehe, kommt er wieder auf die Idee, ein weiteres Fahrrad zu verlangen. In seinem Rausch — die Menschen sind merkwürdig — fühlt er, daß er für dieses Verlangen eine Erklärung schuldet. Er will mir also das Märchen aufbinden, er benötige das zweite Rad für einen verwundeten Leutnant, den er transportieren müsse. Dazu kann er auf einmal mehr deutsch als vorher. Ich schüttle den Kopf, da sagt er: »Ich suchen.« Bedauerlicherweise hat die Frau Weyth, die inzwischen einen Eimer Wasser hineingetragen und sich verflüchtigt hat, die Hintertür zum Keller offen gelassen, und schon steht der Bursche drin. Ich kann ihn nicht hindern, Manfreds Fahrrad herauszuholen. Ich will es auch gar nicht. Erstens ist es so defekt, daß der Bursche nichts damit anfangen kann. Zweitens habe ich keine Lust, mich mit einem betrunkenen Strolch zu zanken. Drittens denke ich: Wahrscheinlich werden die Fahrräder eines Tages ohnehin abgeliefert werden müssen, dann erspare ich mir, wenn er es mitnimmt, die Mühe, es zur Ablieferungsstelle zu schieben. Wenn er nur rasch damit verschwände! Aber der Bursche will Zange, Schraubenzieher und Luftpumpe, um an dem Rad herumzumurksen. Endlich, als er sieht, daß es nur noch defekter davon wird, fährt er beide Räder — das erste hat er auch schon zuschanden gefahren — und torkelt, überall anstoßend, hinaus.



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